Ein mittelständisches Industrieunternehmen steht vor massiven Wartungsproblemen mit seiner zentralen Unternehmenssoftware. Das System ist über mehr als zehn Jahre gewachsen, technisch überholt und kaum noch erweiterbar. Der IT-Sachverständige wird beauftragt, den technologischen Zustand objektiv zu bewerten und eine belastbare Entscheidungsgrundlage für Management und Investoren zu schaffen.
Ausgangssituation
Die eingesetzte Unternehmenssoftware bildete den Kern aller administrativen und produktionsnahen Prozesse. Ursprünglich als Inhouse-Projekt gestartet, wurde sie im Laufe der Jahre von wechselnden Teams ohne durchgängige Architekturstrategie erweitert. Es existierten weder aktuelle technische Dokumentationen noch systematische Tests. Fehlerbehebungen führten häufig zu neuen Problemen, da Quellcode und Datenstrukturen stark miteinander verwoben waren. Fachabteilungen beklagten lange Reaktionszeiten und hohe Ausfallrisiken. Die IT-Abteilung war überlastet und konnte keine verlässlichen Aussagen zur Zukunftsfähigkeit des Systems mehr treffen.
Problemstellung
Das Management stand vor einer strategischen Entscheidung: Sollte das System refaktoriert, also technisch modernisiert werden, oder war eine vollständige Neuentwicklung wirtschaftlich sinnvoller? Zugleich sollte eine mögliche Migration in eine Cloud-Architektur geprüft werden. Interne Einschätzungen waren widersprüchlich, weshalb eine unabhängige sachverständige Analyse erforderlich wurde. Ziel war eine objektive Bewertung der technologischen Substanz, der Architekturqualität und der wirtschaftlichen Perspektive.
Vorgehen des IT-Sachverständigen
Der IT-Sachverständige führte eine strukturierte Untersuchung nach ingenieurmäßigen Prinzipien durch.
- Technische Bestandsaufnahme: Erfassung der Systemarchitektur, verwendeten Technologien, Abhängigkeiten und Deployment-Prozesse.
- Codeanalyse: Statische Auswertung von rund 600.000 Codezeilen hinsichtlich Komplexität, Redundanz und Testabdeckung.
- Architektur-Review: Identifikation zentraler Engpässe, zirkulärer Abhängigkeiten und Verletzungen des Schichtenmodells.
- Risikoanalyse: Bewertung technischer Schulden, Sicherheitslücken und Integrationsrisiken bei Drittsoftware.
- Dokumentationsprüfung: Analyse der Entwicklungsprozesse, Versionshistorie und Build-Pipelines.
Analyseergebnisse
Die Untersuchung zeigte ein stark monolithisches, technologisch veraltetes System mit hoher Kopplung zwischen Geschäftslogik und Benutzeroberfläche. Über 40 % des Codes wiesen zyklische Abhängigkeiten auf. Nur etwa 8 % der Funktionen waren automatisiert getestet. Ein vollständiges Refactoring wäre zwar technisch möglich, hätte aber einen hohen personellen und zeitlichen Aufwand erfordert. Positiv bewertet wurden die Stabilität des Datenmodells und die klar definierten Geschäftsregeln, die für eine zukünftige Modularisierung genutzt werden konnten.
Erkenntnisse & Empfehlungen
Das Gutachten kam zu dem Schluss, dass eine schrittweise Modernisierung – beginnend mit der Modularisierung kritischer Kernkomponenten – wirtschaftlich sinnvoller war als eine komplette Neuentwicklung. Der Sachverständige empfahl:
- Einführung einer serviceorientierten Architektur (Microservices-Ansatz)
- Refactoring der Hauptmodule mit Fokus auf Entkopplung und Testbarkeit
- Schrittweise Migration in eine containerbasierte Cloud-Umgebung
- Aufbau einer automatisierten Test- und Deployment-Pipeline (CI/CD)
- Begleitende Dokumentation und Code-Reviews zur Qualitätssicherung
Reflexion
Diese Fallstudie verdeutlicht, wie sachverständige IT-Begutachtung hilft, technologische Komplexität in fundierte Entscheidungsgrundlagen zu übersetzen. Die Kombination aus technischer Analyse, methodischer Nachvollziehbarkeit und ökonomischer Bewertung ermöglicht es Unternehmen, Risiken zu reduzieren und technologische Weichen langfristig richtig zu stellen.