Ein mittelständisches Industrieunternehmen musste die Einführung eines neuen ERP-Systems mehrfach verschieben. Der IT-Sachverständige wurde beauftragt, die Ursachen für die Verzögerungen sowie die Einhaltung von Pflichtenheft und Verträgen objektiv zu bewerten und eine sachlich fundierte Entscheidungsgrundlage für die weitere Projektfortführung zu schaffen.
Ausgangssituation
Das Unternehmen befand sich in einem unternehmensweiten Transformationsprozess. Ziel war die Einführung eines modernen ERP-Systems zur Vereinheitlichung von Produktions-, Logistik- und Vertriebsprozessen. Nach mehreren Terminverschiebungen und internen Eskalationen war die Projektatmosphäre stark belastet. Zwischen Auftraggeber, Implementierungspartner und Softwareanbieter bestand Uneinigkeit über Leistungsumfang, Verantwortlichkeiten und technische Ursachen der Verzögerungen. Interne Audits zeigten unvollständige Testprotokolle, mangelhafte Schnittstellendokumentationen und unklare Änderungsverfahren. Aufgrund der zunehmenden Unsicherheit wurde der IT-Sachverständige mit einer neutralen Projektdiagnose beauftragt.
Problemstellung
Der Auftraggeber verlangte eine unabhängige Untersuchung mit folgenden Kernfragen:
- Waren die Projektverzögerungen technisch, organisatorisch oder vertraglich bedingt?
- Wurden die im Pflichtenheft definierten Funktionen und Qualitätsmerkmale erfüllt?
- Wurde die Projektkommunikation sachgerecht und dokumentationspflichtig geführt?
- Welche Verantwortung trugen die beteiligten Parteien für Terminabweichungen und Fehlleistungen?
Vorgehen des IT-Sachverständigen
Die Analyse folgte einem strukturierten, vierstufigen Vorgehensmodell, angelehnt an den Problemlösungszyklus nach Andler:
- 1. Diagnose: Sichtung und Auswertung sämtlicher Projektdokumente (Pflichtenhefte, Meilensteinpläne, Änderungsprotokolle, Testberichte) sowie Versionshistorien der Softwarestände. Identifikation von Inkonsistenzen und fehlenden Nachweisen.
- 2. Zielformulierung: Definition der konkreten Prüfziele und Bewertungskriterien, u. a. in Bezug auf Funktionsumfang, Testabdeckung und Kommunikationsstruktur.
- 3. Analyse: Technische Untersuchung der Softwarekomponenten, Schnittstellen und Datenmigrationen. Parallel Bewertung der organisatorischen Abläufe (Projektsteuerung, Change-Management, Eskalationsverfahren). Nutzung von Audit-Interviews mit Schlüsselpersonen.
- 4. Entscheidungsfindung: Zusammenführung der technischen und organisatorischen Befunde in einem Gutachtenbericht mit Priorisierung der Ursachen und Handlungsempfehlungen.
Analyseergebnisse
Die Analyse zeigte ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Ursachen:
- Technische Ursachen: Fehlende Schnittstellenabstimmung zwischen ERP-Kernmodul und Produktionssystem führte zu Instabilitäten. Datenmigrationen waren unvollständig dokumentiert, was zu Validierungsfehlern führte.
- Organisatorische Ursachen: Unklare Rollenverteilung und fehlende Eskalationsmechanismen verzögerten Entscheidungen. Änderungsanträge wurden teilweise ohne technische Prüfung umgesetzt.
- Kommunikative Ursachen: E-Mail-basierte Kommunikation ohne zentrale Ablage führte zu Informationsverlusten und widersprüchlichen Statusmeldungen.
Erkenntnisse & Empfehlungen
Auf Basis der Analyse formulierte der IT-Sachverständige folgende Handlungsempfehlungen:
- Einrichtung eines zentralen Change-Management-Tools mit verbindlichen Genehmigungs- und Dokumentationspflichten.
- Einführung klar definierter Verantwortlichkeiten und Kommunikationsstrukturen innerhalb des Projektlenkungsausschusses.
- Implementierung eines unabhängigen Qualitätsgates vor jedem Go-Live-Schritt mit dokumentierter Freigabe durch die Qualitätssicherung.
- Erstellung einer konsolidierten Nachweisdokumentation (Test-, Abnahme- und Protokollübersicht) für alle Projektphasen.
- Regelmäßige Fortschrittsaudits durch eine neutrale externe Instanz zur Überwachung der Einhaltung von Terminen, Qualität und Budget.
Reflexion
Diese Fallstudie illustriert die Relevanz sachverständiger Projektdiagnostik für komplexe IT-Einführungen. Der IT-Sachverständige agiert dabei als methodisch neutrale Instanz, die technische Fakten, organisatorische Prozesse und Kommunikationsmuster integriert bewertet. Das Ergebnis ist eine nachvollziehbare, belastbare Entscheidungsgrundlage, die über rein technische Analysen hinausgeht und strategische Projektsteuerung ermöglicht.